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Denken wir voraus

Um den Klimawandel zu begrenzen, steigt Deutschland spätestens 2038 aus der Kohleverstromung aus. Wie sieht dann unser Energiesystem aus? Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer der Umweltorganisation Germanwatch, und Gerald Kaendler, Leiter Asset Management bei ­Amprion, über die Dynamik der Klimadebatte, den Bewusst­seinswandel in der chemischen Industrie und Erwartungen an die Politik.

Herr Bals, Herr Kaendler, unser Energiesystem verändert sich tiefgreifend und rasant. Hätten Sie vor fünf Jahren vorhergesagt, dass sich Deutschland nicht nur aus der Kernkraft, sondern auch aus der Kohleverstromung verabschieden wird?

Gerald Kaendler Ich habe nicht damit gerechnet. Die Klimadebatte in Deutschland verlief immer wellenförmig: Sie nahm Fahrt auf, trat dann wieder in den Hintergrund. Die Richtung war absehbar, die Dynamik von heute war aber nicht abzuschätzen – ebenso wenig, dass die EU-Kommission 2019 ­einen „Green Deal“ für Europa anstoßen würde, um bis 2050 klimaneutral zu werden.

Christoph Bals Das Ende der Kohle deutete sich damals an. Auf dem G7-Gipfel in Elmau 2015 hatten die wichtigsten Industriestaaten erstmals angekündigt, langfristig aus der Nutzung von Kohle, Öl und Gas auszusteigen. Dadurch begann in Deutschland eine ernsthafte politische De­batte, vorangetrieben auch durch das Pariser Klimaabkommen im gleichen Jahr. Das Ziel, die menschengemachte globale Erwärmung auf deutlich unter zwei, möglichst sogar unter 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen, bedeutet den Kohleausstieg bis etwa 2030.

Warum ist dieses Ziel so wichtig?

Bals Je mehr fossile Energieträger verbrannt werden, desto mehr Treibhausgase reichern sich in der Atmosphäre an – und desto stärker steigen die globalen Temperaturen. Wir haben nun den Temperaturbereich der vergangenen 11.000 Jahre seit der letzten Eiszeit verlassen. Alle menschlichen Hochkulturen und unsere ökologische Mitwelt waren daran angepasst. Was mit jedem weiteren Zehntelgrad globalem Temperaturanstieg folgt, ist ein gefährliches Großexperiment mit Mensch und Natur. Die dramatisch beschleunigten Schmelzprozesse in Grönland und der West­antarktis sind nur ein Beispiel dafür.

Kaendler Ich teile diese Einschätzung. Das Klimabewusstsein wächst jetzt überall – dies ist auch deutlich bei der Industrie zu spüren. Beispielsweise haben Unternehmen der Chemieindustrie uns 2019 gefragt, ob wir sie beim Umstieg auf klimaneutrale Produktionen unterstützen können, indem wir die Netzanschlusskapazität signifikant erhöhen, so dass sie langfristig mehr grünen Strom beziehen können. Unternehmen der Stahlindustrie wollen mehr grünen Wasserstoff nutzen. Diese Tendenzen waren sichtbar, aber die Parallelität und Dynamik überrascht. Und ich denke, wir sind noch immer am Anfang der Entwicklung. Sie ist bisher nicht ausreichend in den Szenarien für die langfristige Netzplanung abgebildet. Dort besteht Handlungsbedarf.

Denken wir voraus – in die Zeit nach dem Kohleausstieg. Wie wird dann unser Energiesystem aussehen? Immerhin leistet die Kohle derzeit noch einen wichtigen Beitrag zur Stromerzeugung.

Kaendler Deutschland wird auf einen neuen Erzeugungsmix vor allem aus Windkraft, Solarenergie und dekarbonisiertem Gas setzen. Ich erwarte, dass sich die Offshore-Wind­energie extrem gut entwickeln wird, wir werden auch mehr Photovoltaik haben – eingebettet in dezentrale Konzepte mit lokalen Batteriespeichern.

Bals Kein Widerspruch. Ich denke, die Dynamik bei der Photovoltaik wird uns alle überraschen. Solarstrom wird weltweit immer günstiger und hängt preislich schon jetzt vielfach die Kohle ab.

Gerald KaendlerLeiter Asset Management bei Amprion

Was erwarten Sie beim Stromverbrauch?

Kaendler Wir rechnen langfristig mit einem deutlich wachsenden Strombedarf. Die Elektromobilität hat daran ihren Anteil, Wärmepumpen zur Heizung benötigen Strom, die Industrie wird Produktionsprozesse elektrifizieren. Die Sektoren der Energiewirtschaft wachsen zusammen. Daneben wird sich langfristig die Power-to-­Gas-Technologie in industriellem Maßstab durchsetzen. Dabei wandeln Anlagen grünen Strom, der sich nicht in das System integrieren lässt, in Wasserstoff um, der sich im Gasnetz speichern lässt. Industrieunternehmen nutzen ihn als Brenn- und Rohstoff zur Dekarbonisierung ihrer Produktion. Als Übertragungsnetzbetreiber stellen wir uns auf diese Entwicklungen ein und planen das System entsprechend. Denn es gehört zu unserem Selbstverständnis, die Dekarbonisierung zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass das Stromnetz weiterhin stabil und zuverlässig arbeitet.

Bals Ich bin mir nicht sicher, ob der Strombedarf so stark wächst. Mir fehlt da die Rückfrage, was wir zum Beispiel im Sektor Verkehr unternehmen, um weniger und kleinere Autos zu haben. Klimafreundlicher als jedes Elektroauto sind nun mal Zug, Straßenbahn oder das Fahrrad. Es wäre falsch, Bedarfe einfach fortzuschreiben, ohne an einer Mobilitätswende zu ­arbeiten.

Wird Deutschland 2038 weiterhin Strom importieren?

Kaendler Selbst wenn wir durch Power-to-Gas langfristig große Energiemengen als grünen Wasserstoff speichern und verwenden können, werden wir unverändert auf Importe von dann dekarbonisierter Primärenergie angewiesen sein, um den Strombedarf zu decken. Weil mehr Energie regenerativ erzeugt und Energie insgesamt effizienter genutzt wird, sollten die Importe allerdings niedriger ausfallen als heute.

Bals Auch hier die Rückfrage: Wie reduziert und organisiert man diese Importe zu fairen Bedingungen? Seit Beginn der Industrialisierung hat unsere Wirtschaft und später unsere Demokratie davon gelebt, andere Regionen und die Umwelt auszubeuten. Bevor wir Wasserstoff importieren wollen, muss erst mal klar sein, wie sich die Exportländer selber mit erneuerbaren Energien versorgen können. Wenn man mit Afrika darüber nachdenkt, in Zukunft Wasserstoff in größeren Mengen von dort zu importieren, geht das nur mit neuen, partnerschaftlichen Geschäftsmodellen auf Augenhöhe. Da ist noch extrem viel zu tun.

Als Übertragungsnetzbetreiber wird Amprion an dieser Stelle kaum Einfluss nehmen können …

Kaendler Entscheidungen zu Energieimporten werden das Energiesystem in Deutschland beeinflussen, für das wir uns mitverantwortlich fühlen. Deshalb ist es wichtig, diese Debatten und gesellschaftlichen Trends zu beobachten. Darüber hinaus halte ich es für wichtig, mit vielen Menschen aus verschiedenen Branchen zu sprechen, um voneinander zu lernen. So wie Amprion mit der Gasindustrie spricht, um bei Power-to-Gas voranzukommen. Bis 2038 werden wir in allen Bereichen neue technologische Lösungen sehen. Was alles technologisch möglich sein wird, um die Dekarbonisierung zu unterstützen, können wir heute noch gar nicht abschätzen. Klar ist nur: Strom wird eine wichtige Rolle spielen und wir müssen alle voneinander lernen, um die Potenziale zu erkennen. Vielleicht ergeben sich Lösungen, die wir heute noch gar nicht sehen.

Bals Solche Innovationsprozesse könnten geradezu eine Aufbruchsstimmung erzeugen. Wir bewegen uns gerade in einer Phase der Energiewende, die mit vielen Unsicherheiten verbunden ist. Mit Angst darauf zu reagieren, wäre der falsche Weg.

Christoph BalsGermanwatch

Die Energiewirtschaft plant langfristig. 2030 ist gefühlt morgen, 2050 übermorgen. Welche Weichen müsste die Politik heute für die Zeit nach dem Kohleausstieg stellen?

Bals Sie muss alles dafür tun, damit wir in Deutschland ausreichend erneuerbare Energien zur Ver­fügung haben. Darüber hinaus wird es darauf ankommen, in der jetzigen „systemischen“ Phase der Energiewende den Ausbau der erneuerbaren Energien mit dem Netzausbau, der Sektorenkopplung und neuen Möglichkeiten der Verbrauchssteuerung zu verbinden und all das zu optimieren. Also, liebe Bundesregierung, wie sieht ein nachhaltiger Fahrplan für Energieeffizienz und für Power-to-Gas konkret aus – und für Wasserstoff? Was können wir davon hier bei uns leisten und was müssen wir auf faire Weise importieren?

Kaendler Für Amprion ist es zunächst wichtig, dass der Netzausbau vorankommt und dass wir mehr Instrumente an die Hand bekommen, um 2038 und darüber hinaus die Systemsicherheit zu gewährleisten. Es fehlt derzeit an Möglichkeiten, neue Technologien großtechnisch zu erproben – auch mit dem Risiko, dass sie hinter den Erwartungen zurückbleiben. Aber bestimmt wird die eine oder andere Innovation ein Knaller und hilft uns allen. Schließlich müssen alle endlich beginnen, sektorenübergreifend zu denken und zu planen. Ich glaube, Amprion als Übertragungsnetzbetreiber könnte zu einer Art Plattform werden, die die verschiedenen Strömungen zusammenführt.

Text  Volker Göttsche
Foto  Germanwatch (Christoph Bals)