„Multitalent“
Wasserstoff

Deutschland soll bis 2050 klimaneutral werden. Das fordert sowohl die chemische Industrie als auch Amprion heraus. Wie gehen sie damit um? Renate Klingenberg, stellvertretende Geschäftsführerin des VCI Nord, und Gerald Kaendler, Leiter Asset Management von Amprion, über gigantische Strombedarfe und das Herausfordernde daran, Vorreiter zu sein.

Frau Klingenberg, wo steht die chemische Industrie auf dem Weg zur Klimaneutralität?

Renate Klingenberg Wir haben schon eine ordentliche Strecke zurückgelegt. Die Chemieindustrie hat ihre Treibhausgas-Emissionen gegenüber 1990 um fast die Hälfte reduziert – bei wachsenden Produktionsmengen. Aber um bis 2050 klimaneutral zu werden, brauchen wir sehr günstigen grünen Strom in gigantischen Mengen. Die Unternehmen werden ihre Prozesse statt mit Öl und Gas stärker mit Strom fahren. Unser Bedarf wird sich bis 2050 auf 625 Terawattstunden erhöhen – und damit gegenüber heute mehr als verzehnfachen.

Gerald Kaendler Darauf muss und wird sich das Stromsystem einstellen. Strom ist volkswirtschaftlich gesehen extrem wertvoll: Elektrische Prozesse sind sehr effizient – und Strom lässt sich aus erneuerbaren Energien erzeugen. Amprion bringt den Strom zu den Kunden und unterstützt so die Industrie bei der Dekarbonisierung durch Elektrifizierung. Die Herausforderungen bestehen darin, dass die Einspeisung von Wind- und Solarstrom ins Netz wetterbedingt stark schwankt – und sich Strom nicht in großen Mengen speichern lässt.

Klingenberg Wir gehen deshalb davon aus, dass sich die Stromimporte deutlich erhöhen werden.

Kaendler Ja, das erwarten wir auch. Deshalb bauen wir das Stromnetz mit aus. In der Nordsee gibt es viel Wind und wir können uns mit anderen Ländern durch das „Eurobar“-Konzept vernetzen. Die andere Frage ist: Wie bekommen wir mehr Flexibilität ins System? Strom allein wird uns irgendwann nicht mehr glücklich machen. Wenn wir aber mit seiner Hilfe grünen Wasserstoff erzeugen – und zwar dann, wenn wir den Strom nicht mehr in das System aufnehmen können –, sieht die Welt ganz anders aus. Industrie und Energiewirtschaft sollten bis Mitte der 2030er Jahre so weit sein, bei der Dekarbonisierung den nächsten Schritt zu gehen. Wir müssen uns dafür alle Energieträger anschauen und dabei Importe berücksichtigen – sie sind ein wichtiger Teil der Flexibilität. Dann können wir in Deutschland und Europa bis 2050 ein klimaneutrales, sicheres und effizientes Energiesystem bauen.

Welche Hoffnungen verbindet die Chemieindustrie mit Wasserstoff?

Klingenberg Wir setzen ihn schon heute in großen Mengen ein, vor allem als Rohstoff. Deutschlandweit kommen wir auf etwa eine Million Tonnen pro Jahr. Schätzungen zufolge wird das auf bis zu zehn Millionen Tonnen pro Jahr anwachsen. Grüner Wasserstoff – also Wasserstoff, der aus grünem Strom erzeugt wird – ist für die chemische Industrie ein Schlüsselelement, um die Klimaziele zu erreichen. Er ist ein Multitalent, wird über die verstärkte stoffliche Nutzung hinaus auch eine Rolle als Energieträger spielen. Sie haben es eben angesprochen: Wasserstoff lässt sich speichern – und gewährleistet so eine Energieversorgung ohne Unterbrechungen. Die ist für die Unternehmen der chemischen Industrie essentiell.

Kaendler Diese Perspektive teile ich. Gleichwohl plädiere ich auch hier für mehr Flexibilität. Es wäre sinnvoll, die Produktionsprozesse in der Industrie daraufhin zu prüfen, wo und wann mal mehr, mal weniger Strom oder eben Wasserstoff eingesetzt werden kann.

Klingenberg Überall, wo das möglich erscheint, wird darüber nachgedacht. Wir müssen aber auch immer die Wettbewerbsfähigkeit unserer Produkte auf den internationalen Märkten im Auge behalten. Neue Technologien sind mit zusätzlichen Kosten verbunden, die die Produkte unserer Unternehmen verteuern. Es geht hier um Milliarden-Investitionen.

Kaendler Wettbewerbsfähig zu bleiben, ist für die Industrie natürlich überlebenswichtig. Aber wäre es dann nicht ebenso wichtig, die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens zu verändern? Wenn es nicht mehr nur zählt, wer der billigste Anbieter ist, sondern auch wer die klimafreundlichsten Produkte herstellt?

Klingenberg Das hoffen wir. Doch bisher fehlt es an internationalen Standards, die entsprechende Anreize setzen. Deshalb brauchen wir Ausgleichsmechanismen, die anerkennen, dass unsere Produkte einen Zusatznutzen zur Nachhaltigkeit erbringen.

Vorreiter zu sein, scheint nicht nur Vorteile zu haben.

Klingenberg In der Tat. Wir sind im internationalen Vergleich so etwas wie Earlybirds und haben mit Investitionen zu tun, die der Markt bislang kaum honoriert.

Kaendler Dieses Thema ist uns auch begegnet – im Projekt „hybridge“. Wir haben gemeinsam mit dem Gasnetzbetreiber OGE das Konzept einer Power-to-Gas-Anlage entwickelt, die mit Hilfe von grünem Strom erstmals Wasserstoff im industriellen Maßstab erzeugen soll. Bisher gibt es nur deutlich kleinere Anlagen. Wir wissen: Wenn sich Kapazitäten verdoppeln, sinken die Kosten um etwa 30 Prozent. Das bedeutet: Derjenige, der als Erster in eine große Anlage investiert, wird der größte Verlierer sein, weil die nächste Anlage 30 Prozent günstiger sein wird und so weiter. Das ist unser Earlybird-Problem. Aber wir wollen aus der Not eine Tugend machen, denn Deutschland braucht den Hochlauf der Power-to-Gas-Technologie. Wir bieten daher an, als reguliertes Unternehmen die großtechnische Wasserstoff-Produktion zu erproben und allen Marktteilnehmern dann unsere Erfahrungen zur Verfügung zu stellen.

Wie es aussieht, stehen Chemieindustrie und Übertragungsnetzbetreiber hier vor ähnlichen Herausforderungen ...

Klingenberg ...und wir werden sie nur meistern, wenn wir uns gemeinsam auf den Weg machen und den Mut haben, neue Ansätze zu denken. Das finden wir so positiv an „hybridge“: Alle an der Wertschöpfung Beteiligten sind involviert und probieren gemeinsam aus, wie sich Stellschrauben im System verändern lassen. Wir meistern die Herausforderungen nicht, wenn wir auf bekannten Wegen bleiben und nur die heute naheliegenden Lösungen verfolgen. Wir brauchen einen Wettbewerb um neue Ideen. Das betrifft technologische Innovationen, das betrifft zum Beispiel auch die Frage, wie wir unseren Wasserstoff-Bedarf stillen. Da werden wir um Importe grüner Gase nicht herumkommen. Das kann grüner oder blauer Wasserstoff sein, aber vielleicht auch Ammoniak, Methanol oder grünes Methan, das wir in Wasserstoff umwandeln? Bei diesen Fragen stehen wir ganz am Anfang.

Kaendler Die Energiewende ist mit einem Lernprozess verbunden, über den ich immer wieder staune. Das ging mir zum Beispiel so, als wir das Konzept von „hybridge“ erarbeitet haben. Wir sind damals mit neuen Partnern in Dialog getreten, darunter auch mit der Chemie- und Gasindustrie. Wir haben begonnen, über das Stromsystem hinauszudenken. Ohne heute schon sagen zu können, wie genau ein klimaneutrales Energiesystem 2050 aussieht. Aber es lohnt sich, daran jetzt gemeinsam zu arbeiten.

Welche Schritte sind nötig, um so etwas wie ein Zielbild für das Energiesystem 2050 zu entwerfen?

Kaendler Wir können uns dem in Szenarien nähern, die Energieerzeugung und -verbrauch durchspielen, abhängig von den jeweiligen Energieträgern. Wir können uns anschauen, wo potenzielle Erzeuger und Verbraucher sitzen – und welche Strom-, Gas- oder Wasserstoff-Infrastrukturen Deutschland benötigt, um sie miteinander zu verbinden. Und wir können uns fragen, wie das Ganze optimal betrieben wird. Also auch, welche Flexibilität es bei Strom- und Gasanwendungen gibt. Das alles machen wir gerade mit Partnern in unserem Projekt „Systemvision 2050“.

Klingenberg In Ihrem Bild möchte ich einen Baustein hervorheben: Wir brauchen so etwas wie einen Wasserstoff-Marktplatz in Europa. Den gibt es noch nicht. Dort könnten sich Anbieter von Strom, Gas und Wasserstoff mit Nachfragern nach Strom, Gas und Wasserstoff treffen und marktgerechte Preise auch für die wechselseitige Umwandlung der Energieträger finden.

Kaendler Ein interessanter Baustein. Bisher gibt es getrennte Märkte für Strom und für Gas. Durch einen gemeinsamen Marktplatz könnten nachfragende Unternehmen zwischen Strom und Wasserstoff optimieren. Das ist im Grunde das, was wir von einem integrierten und sektorenübergreifenden Energiesystem erwarten. Ein solcher Marktplatz könnte die Flexibilität schaffen, damit für alle immer genug Energie da ist.

Der Weg zur Klimaneutralität verlangt Weichenstellungen. Bitte antworten Sie stichwortartig: Was wünschen Sie sich von der deutschen Politik?

Klingenberg Wir wünschen uns Unterstützung in diesen Punkten: Wir brauchen unsagbar viel erneuerbare Energie, die uns verlässlich zur Verfügung steht. Wir brauchen einen niedrigen Strompreis, um wettbewerbsfähig produzieren zu können. Und wir brauchen neben der Offenheit für neue Ideen einen dauerhaften Kompass, damit wir unsere Investitionen richtig steuern können.

Kaendler Auch Amprion setzt auf mehr erneuerbare Energien, vor allem im Offshore-Bereich. Wir müssen den Strom zu den Kunden bringen und brauchen den Netzausbau. Und wir brauchen die Offenheit für systemische Lösungen wie „hybridge“, um das Energiesystem über Strom hinauszudenken und mitzugestalten.

TextVolker Göttsche
IllustrationenAleksandar savic