Tiefer Blick ins Netz
Amprion bereitet den Weg für ein klimaneutrales Energiesystem. Um es zu steuern, bedarf es innovativer und leistungsstarker Technologien. Amprion hat seine Systemführung in Brauweiler bei Köln fit für die Zukunft gemacht und eine neue Hauptschaltleitung gebaut. Frauen und Männer arbeiten dort im Schichtdienst, um das Stromnetz nicht nur in der Regelzone von Amprion, sondern auch in Deutschland und Europa stabil und sicher zu halten. Dafür bedarf es innovativer und leistungsstarker Technologien. Der Ausbau erneuerbarer Energien stellt die Systemführung vor enorme Herausforderungen. Die neue Hauptschaltleitung hilft, sie zu meistern – ein Meilenstein auf dem Weg zu einem Übertragungsnetzbetreiber der nächsten Generation.
- Text
- Heimo Fischer
- Fotos
- Marcus Pietrek
Europa im Blick
Europa im Blick
In der Hauptschaltleitung überwachen Ingenieurinnen und Ingenieure Stromflüsse, Spannung und Frequenz des Übertragungsnetzes. Wichtigstes Arbeitsmittel ist eine Großbildanzeige mit einer Fläche von 108 Quadratmetern – eine der weltweit größten im Energiebereich. „Sie wird der Systemverantwortung gerecht, die Amprion für die Stabilität des deutschen und europäischen Stromnetzes übernimmt“, sagt Dr. Christoph Schneiders, Leiter der Hauptschaltleitung.
Unter anderem nimmt sein Team auch die Übertragungsnetze von Nordfrankreich bis Tschechien, von Dänemark bis Norditalien in den Blick – und verfügt damit über das größte Beobachtungsgebiet mit Online-Informationen in Europa. „Die nationalen Stromnetze sind in Europa längst eng miteinander verbunden“, sagt er. „Wenn es in einem Nachbarland ein Problem gibt, kann uns das auch betreffen. Deshalb haben wir so ein großes Gebiet im Blick und können zugleich unsere Hilfe anbieten.“
Per Mausklick erscheinen Leitungen des kontinentaleuropäischen Verbundnetzes auf der Großbildanzeige. Leitungen, Umspannanlagen und Schalter sind in verschiedenen Farben dargestellt. Zwei hochmoderne Rechenzentren verarbeiten täglich Millionen von Informationen aus dem Netz. Beispielsweise werden alle drei Sekunden die Zustände von mehr als 50.000 Schaltgeräten in 800 Schaltanlagen und die Messwerte von rund 2.800 Leitungen erfasst. In der Hauptschaltleitung werden sie visualisiert und so zu einem stets aktuellen Lagebild zusammengefügt.
Grafiken, Tabellen und digitale Zeiger ergänzen das Abbild des Stromnetzes. Sie zeigen unter anderem Spannung, Stromflüsse und Frequenz im Amprion-Netz. Der Ausbau erneuerbarer Energien und der zunehmende grenzüberschreitende Stromhandel stellen die Spezialistinnen und Spezialisten der Hauptschaltleitung vor wachsende Herausforderungen: Je mehr Strom aus Wind und Sonne wetterabhängig erzeugt wird, desto komplexer werden die Abläufe im Übertragungsnetz. Gleichzeitig wird elektrische Energie im europäischen Binnenmarkt über immer größere Entfernungen zum Verbraucher gebracht.
Die Größen Spannung, Frequenz und Strom müssen jederzeit überwacht werden, um die Netz- und Systemsicherheit zu bewerten. Um die Spannung zu regulieren, veranlassen die Schaltingenieurinnen und -ingenieure bei Bedarf, dass Blindleistung eingespeist oder kompensiert wird. Um die Frequenz zu stabilisieren, können sie Regelenergie einsetzen, also beispielsweise Kraftwerke mehr oder weniger Strom ins Netz einspeisen lassen. Stromflüsse lassen sich durch Schaltmaßnahmen oder Eingriffe in Kraftwerksfahrpläne – den sogenannten Redispatch – steuern.
Im Herzen der Systemführung
Im Herzen der Systemführung
Die Großbildanzeige in der Hauptschaltleitung Brauweiler ist die größte in Europa. Per Mausklick erscheinen dort nicht nur Leitungen von Amprion, sondern auch von benachbarten Netzbetreibern im kontinentaleuropäischen Verbundnetz.
Experte für Visualisierung
Experte für Visualisierung
Dr. Christoph Schneiders leitet die Hauptschaltleitung Brauweiler von Amprion. „Sie ist das Herzstück der Systemführung“, sagt der 41-jährige Elektroingenieur. Die neue Hauptschaltleitung hat er mitentwickelt. Er hat auf dem Gebiet der Visualisierung für Leitsysteme promoviert. Wie sich komplizierte Lagen in Übertragungsnetzen verständlich darstellen lassen, war das Thema seiner Doktorarbeit. Für ihn steht fest: „Die Klimaziele in Deutschland und Europa lassen sich nur erreichen, wenn wir erneuerbare Energien ins Stromsystem integrieren und sie zudem in andere Sektoren bringen. Die neue Hauptschaltleitung wird eine Schlüsselrolle bei dieser Entwicklung spielen.“
Windstrom im Fokus
Windstrom im Fokus
Der in der Nordsee erzeugte Windstrom fließt auf dem Weg nach Süden auch durch das Amprion-Netz und beeinflusst die Leitungsauslastungen und Spannungen im Netzgebiet. Eine für diesen Zweck entwickelte Anzeige lässt erkennen, wie viel Strom die Windparks in der Nordsee in diesem Moment liefern. Damit bereitet sich die Hauptschaltleitung auch darauf vor, dass Amprion Offshore-Windparks an das Übertragungsnetz anbinden wird. Die Schichten in verschiedenen Farben geben wieder, an welcher Anbindungsstelle wie viel Offshore-Strom ins Netz eingespeist wird. Verändert sich das Bild unerwartet deutlich, sind die Schaltingenieurinnen und -ingenieure vorgewarnt – und können Überlastungen im Netz vorbeugen.
Strom aus erneuerbaren Energien wird – abhängig vom Wetter – stark schwankend erzeugt. Deshalb setzt Amprion in der Hauptschaltleitung auf verschiedene Arten künstlicher Intelligenz, um die Menge des eingespeisten Stroms zu prognostizieren. Selbstlernende Algorithmen werten dafür die Wettervorhersagen verschiedener Quellen aus. Wer bei vergleichbaren Großwetterlagen bislang die besten Prognosen abgegeben hat, fließt stärker in die Berechnung der aktuellen Vorhersage ein.
Innovationen im Netz
Innovationen im Netz
Das Energiesystem verändert sich nicht nur durch den Ausbau der erneuerbaren Energien. Auch der grenzüberschreitende Austausch von Strom nimmt weiter zu. Dafür braucht es leistungsstarke „Strombrücken“ zwischen den nationalen Netzen. Eine davon ist ALEGrO – die erste direkte Stromverbindung zwischen Deutschland und Belgien. Die 90 Kilometer lange Leitung verläuft als Erdkabel zwischen Aachen und Lüttich und ging 2020 in Betrieb. ALEGrO ist auf der Großbildanzeige in Violett dargestellt, denn es handelt sich um eine Gleichstromverbindung. Die Stromflüsse lassen sich hier einfacher steuern als bei Wechselstromverbindungen – gleichzeitig ist es eine herausfordernde Aufgabe, den Einsatz der neuen Gleichstromverbindung im engmaschigen Wechselstromsystem zu koordinieren. Die Erfahrungen mit ALEGrO kann Amprion zum Beispiel nutzen, wenn die 340 Kilometer lange Gleichstromverbindung „Ultranet“ zwischen Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg in Betrieb geht.
Netzlage schnell erfassen
Netzlage schnell erfassen
Die Frauen und Männer der Hauptschaltleitung müssen den Zustand des Übertragungsnetzes jederzeit im Blick haben. Deshalb setzt Amprion auf modernste Visualisierungssoftware, um die Lage auf einen Blick zu erfassen. Ein Beispiel dafür ist diese Karte. Sie zeigt die Stromflüsse im Amprion-Netz und kombiniert sie mit einer Darstellung der regionalen Leistungsbilanzen. Dadurch lässt sich erkennen, ob in der jeweiligen Region mehr oder weniger Strom erzeugt als verbraucht wird. Im Norden – auf der Karte links – speisen Windparks so viel Strom ein, dass sich ein Stromüberschuss ergibt, der rot angezeigt wird. Anders im Süden (rechts), wo Industriezentren viel Strom verbrauchen: Die „Stromsenke“ ist dort grün angezeigt.
Aufgaben für Europa
Aufgaben für Europa
Weil das Amprion-Netz im Zentrum Europas liegt, ist es zur Drehscheibe des europäischen Stromhandels geworden. Amprion hat weitreichende Koordinierungsaufgaben im europäischen Verbundnetz übernommen, ohne die der EU-Binnenmarkt für Strom nicht funktionieren würde. Die Großbildanzeige in der Hauptschaltleitung umfasst daher auch eine Europakarte, die Systemzustände und Alarmmeldungen, aber auch grenzüberschreitende Stromflüsse zeigt. Blau gefärbte Länder importieren im Moment Strom, rot gefärbte Länder exportieren Strom. Auch Ungleichgewichte lassen sich leicht erkennen und so Gegenmaßnahmen schneller einleiten. Dafür arbeitet Amprion eng mit den anderen Übertragungsnetzbetreibern in Europa zusammen und hat als „Synchronous Area Monitor“ eine zentrale Rolle, um die Systemfrequenz im europäischen Synchrongebiet stabil zu halten.
Netz im Gleichgewicht halten
Netz im Gleichgewicht halten
Stromerzeugung und Stromverbrauch müssen im gesamten kontinentaleuropäischen Verbundsystem in jedem Moment im Gleichgewicht sein. Andernfalls weicht die Frequenz vom Sollwert 50 Hertz ab und das System kann instabil werden. Auf der Großbildwand in Brauweiler zeigt eine Art Tachometer die aktuelle Frequenzabweichung. Schwankt die Frequenz auch nur um wenige Millihertz, schlägt der digitale Zeiger aus. Normalerweise ist er immer etwas in Bewegung. Bleibt die Abweichung in eine Richtung jedoch länger bestehen oder werden die Ausschläge zu groß, müssen die Schaltingenieurinnen und -ingenieure aktiv werden. Dafür setzen sie Regelenergie und andere Instrumente ein. Um die Systemsicherheit zu wahren, können sie in Ausnahmefällen umfassende Maßnahmen ergreifen. Auch hierbei werden sie von modernster Schutz- und Leittechnik unterstützt. Extremsituationen und Störungsszenarien werden regelmäßig im Simulator trainiert.