Dirk der Starke

Transformatoren im Amprion-Netz tragen dazu bei, Millionen Menschen sicher mit Strom zu versorgen. Müssen die tonnenschweren Maschinen getauscht werden, reisen sie mit der Bahn zum neuen Einsatzort. Deshalb hat Amprion das größte Schienenfahrzeug Deutschlands bauen lassen. Die Entstehungsgeschichte eines Giganten.

Sein Spitzname ist Dirk – und er fällt auf. Nicht nur wegen seines Körperbaus. Der mattgraue Koloss ist 52 Meter lang, wiegt 220.000 Kilo, schleppt Lasten von 500 Tonnen und kann sich nur rollend fortbewegen. Aufgrund seiner geschwungenen Stahlarme wird er auch „Tragschnabelwagen“ genannt oder einfach nur „TSW 500“. Dirk ist das jüngste Mitglied in der Familie von Schwerlastwaggons, mit denen Amprion riesige Transformatoren befördert. Unter Eisenbahnfans ist der große Dirk bereits eine kleine Sensation. „Denn er ist das schwerste Schienenfahrzeug Deutschlands“, sagt Felix Mangold.

„Er ist das schwerste
Schienenfahrzeug Deutschlands.“

Felix Mangold

Maschinenbautechniker der Firma Kübler

Der gelernte Mechatroniker und Maschinenbautechniker kennt Dirk so gut wie kaum eine andere Person. Er arbeitet beim schwäbischen Unternehmen Kübler, das den TSW 500 im Auftrag von Amprion gebaut hat. Mehrere Jahre hat sich Mangold mit dem Waggon beschäftigt. Er hat geplant, gerechnet und immer wieder in den Kalender geschaut, damit Dirk rechtzeitig fertig wird. Im September 2020 ist es so weit: Der TSW 500 wird an Amprion übergeben. Die kleine Feierstunde am Schwerlastterminal von Kübler im Hafen Mannheim erlebt der 31-Jährige nun mit einem lachenden und einem weinenden Auge. „Es tut etwas weh loszulassen“, räumt Mangold ein. Aber es sei auch großartig zu sehen, dass der Waggon jetzt tatsächlich in den Einsatz geht.

Kritischer Blick: Felix Mangold prüft die Funktion des Waggons. Die Höhe der Ladung lässt sich ferngesteuert heben und senken.

Lange Suche nach einem Hersteller

Amprion hat mit Dirk große Pläne: In den kommenden 40 Jahren – so lange soll der TSW 500 rollen – stehen mehr als 500 Trafo-Transporte an. Transformatoren stehen in Umspannanlagen, wo sie dazu beitragen, die Stromversorgung von Millionen Menschen zu sichern. Amprion tauscht sie regelmäßig aus oder bringt neue Maschinen zu ihrem Einsatzort. „Jedes Jahr kommen bei uns einige Transformatoren hinzu“, erklärt Henrik Kastner, Eisenbahnbetriebsleiter bei Amprion. Im Zuge der Energiewende wird das Amprion-Netz ausgebaut, um mehr Windstrom aus dem Norden in die Verbrauchszentren im Süden Deutschlands zu transportieren. Dazu gehört auch, die Umspannanlagen im Netz mit leistungsfähigeren Transformatoren zu verstärken.

Doch Schwerlastwaggons für den Transport der Maschinen sind schwer zu bekommen. „Wir haben lange Zeit eine Firma gesucht, die sie herstellt“, sagt Kastner. Ohne Erfolg. Die Firma Kübler hatte früher dasselbe Problem. Der Schwerlastspezialist brauchte neue Tragschnabelwagen, fand aber ebenfalls keinen Lieferanten. Deshalb entschied sich die Spedition im Jahr 2015, Tragschnabelwagen in Eigenregie zu planen, die Teile einzeln fertigen zu lassen und selbst zu montieren. „Kübler war für uns der ideale Partner“, sagt Kastner und erklärt auch, woher der Spitzname Dirk kommt: Eine Amprion-Führungskraft mit dem Vornamen Dirk habe sich für die Anschaffung eingesetzt. Die dankbaren Kollegen machten ihn deshalb zum Namenspatron des neuen Gefährts.

Familientreffen: Am Tag der Übergabe stand rechts neben Dirk ein kleinerer Tragschnabelwagen, den die Spedition Kübler für Transporte nutzt.

Tragschnabelwagen sind außergewöhnliche Fahrzeuge. Sie teilen sich beim Einsatz in zwei Hälften. Im Raum dazwischen hängt der Transformator. Durch eine intelligente Konstruktion werden die Kräfte so abgeleitet und verteilt, dass sich schwerste Lasten befördern lassen. Da der Zug höchstens Tempo 60 fahren darf, dauert die Reise manchmal Wochen. Deshalb hängt hinter der Diesellok ein Wohnwaggon, in dem die Besatzung kocht und schläft. Die Arbeit ist anstrengend. Während der Fahrt muss die wuchtige Ladung immer wieder mithilfe einer Hydraulik justiert werden, um nicht an Hindernisse zu stoßen.

In ihren bisherigen Schwerlastwaggons mussten die Männer von Amprion dafür im Freien stehen. „Im neuen Tragschnabelwagen gibt es zwei beheizte Kabinen“, sagt Felix Mangold. Komfortabler und moderner ist auch die Technik geworden. Geduldig erläutert der Maschinenbautechniker bei der Übergabe die digitale Steuerung, zeigt die Joysticks und farbigen Knöpfe am Bedienpult. Geschickt hangelt er sich anschließend an den gewaltigen Stahlträgern entlang, erklärt den Sinn der vielen Kabel und Rohre, die sich durch den TSW 500 ziehen.

Den Überblick behalten

Mitte 2019 erteilt Amprion den Auftrag zum Bau von Dirk – und Felix Mangold macht sich an die Arbeit. Eine anstrengende Zeit? Der Maschinenbautechniker lächelt und überlegt. „Wir hatten uns bereits viel Wissen angeeignet.“ Mangold begeistert sich für Technik und spricht gern darüber. Schon vor dem Auftrag von Amprion hat er einen Tragschnabelwagen für Kübler überholen und einen anderen neu bauen lassen. Deshalb weiß er, wo es geeignete Konstruktionsbüros gibt, welche Stahlfirmen in Frage kommen und wem er bei der Fertigung von Drehgestellen, Bremsen oder Hydraulikzylindern vertrauen kann.

Die Entstehung von Dirk ist ein komplexes Projekt. Knapp 200 Beschäftigte von rund 25 Lieferfirmen beteiligen sich daran. „Die wichtigste Aufgabe ist es da, den Überblick zu behalten“, sagt Projektleiter Mangold. Zumal der Zeitplan eng gestrickt ist. Aus rechtlichen Gründen darf die Bauzeit von Dirk ein Jahr nicht überschreiten.

Die fertigen Komponenten gehen zunächst zum Firmensitz von Kübler nach Schwäbisch Hall. Dort werden sie kontrolliert und bei Bedarf noch einmal bearbeitet. Im April 2020 reisen sie auf zehn Tiefladern nach Halle, wo der Tragschnabelwagen an zwei Tagen mithilfe eines Schwerlastkrans zusammengesetzt wird. Diese als „Hochzeit“ bezeichnete Phase ist ein entscheidender Abschnitt. Denn erst dann stellt sich heraus, ob exakt gearbeitet wurde und alle Teile passen.

Lang und stark: Dirk trägt bereits das Unternehmens-Logo. Zuvor wurde er in Halle mit einem Schwerlastkran zusammengesetzt.

Lang und stark: Dirk trägt bereits das Unternehmens-Logo. Zuvor wurde er in Halle mit einem Schwerlastkran zusammengesetzt.

25

Firmen beteiligten sich am Bau von Dirk.

Hektik vor der Hochzeit

Wie bei allen Hochzeiten bricht kurz vor dem Termin Hektik aus: Die bei einem österreichischen Unternehmen bestellten Elektriker dürfen wegen der Corona-Pandemie nicht nach Deutschland reisen. Kollegen von Kübler müssen den Job übernehmen. Dumm nur, dass auch die Hotels in Halle geschlossen haben. Mangold findet eine Lösung: „Wir haben ein großes Haus gemietet und dort unter Beachtung der Abstandsregeln gewohnt.“ Am Abend des zweiten Tages entspannen sich alle Beteiligten wieder. Alles passt, teilen die Monteure mit. Hochzeit erfolgreich vollzogen!

Nach gelungener Montage steht dem rollfähigen Dirk noch eine Prüfung bevor: der Zulassungstest auf einer Eisenbahn-Versuchsstrecke. Davon gibt es nur zwei in Europa, eine ist etwa 60 Kilometer östlich der tschechischen Hauptstadt Prag. „Sachverständige prüfen ein Fahrzeug dort mehrere Tage lang auf Herz und Nieren“, sagt Mangold. Um zu testen, ob die Bremsen auch im Notfall funktionieren, wird der Anhänger zum Beispiel in voller Fahrt von der Lok abgekoppelt. Dirk meistert die Herausforderung. Die Sicherheitssysteme funktionieren und die Bremsen arbeiten tadellos.

Fahrzeug fertig, Stimmung gut: Kübler-Chef Heinz Rößler im Gespräch mit Ludger Meier, Leiter Netzprojekte von Amprion.

Fahrzeug fertig, Stimmung gut: Kübler-Chef Heinz Rößler im Gespräch mit Ludger Meier, Leiter Netzprojekte von Amprion.

Nach bestandenem Examen ist Dirk bereit für den Ernst des Lebens. Vor der Übergabe erfolgt ein letzter Arbeitsschritt. Der Wagen wird hübsch gemacht: mit dem Logo von Amprion und Streifen in den Unternehmensfarben. Schließlich soll der starke Dirk auf seinen Fahrten durch Deutschland stets eine gute Figur machen.

TextHeimo Fischer
FotosRaphael Foidl